Ein gutes Leben zu führen ist die beste Rache.«
George Herbert
IN DEN ERSTEN BEIDEN TEILEN DIESES BUCHES haben wir schon begonnen, die Arbeit mit den Teilen als einen Weg zu einer kreativeren, produktiveren Beziehung zu unseren Gefühlen zu erkunden. In Teil drei haben wir zudem eine neurowissenschaftliche und neuropsychologische Betrachtungsweise miteinbezogen, um den Blick auf soziale Fragen zu erweitern. Hoffentlich haben die Übungen am Ende von Teil drei verdeutlicht, dass viele Methoden, mit deren Hilfe wir unsere inneren Teile besser kennenlernen können, auch hilfreich sind, um unsere Verbundenheit mit anderen Menschen zu verstärken und sie auf einer tieferen Ebene zu verstehen. In diesem letzten Teil des Buches werden wir alles, was wir bisher angewandt haben, zu einer Synthese zusammenführen – Teile-Arbeit und Neurowissenschaft, das Arbeiten mit unseren inneren Teilen und mit anderen Menschen –, während wir bestimmte schwierige Alltagssituationen, mit denen wir alle konfrontiert sind, betrachten.
Der Ansatz der Teile-Arbeit öffnet uns die Tür für die Erfahrung der unglaublichen Nuancen unseres reichen Innenlebens. Dennoch wäre es naiv, so zu tun, als wären Gefühle lediglich eine individuelle Angelegenheit, losgelöst von der Komplexität sozialer Voraussetzungen, von äußeren Beziehungen und vom Situationszusammenhang. Vielleicht liegt die wahre Kraft der Teile-Arbeit hierin: Als Ergebnis dessen, was wir aus unserem Inneren zutage gefördert haben, können wir das, was in anderen vorgeht, klarer sehen. Viele von uns fürchten, mit einem solch offenen Herzen in der Welt zu leben, bedeute, dass wir alle möglichen toxischen Menschen in unseren engeren Umkreis lassen müssten. Oder sie fragen sich, was sie tun sollen, wenn andere ihnen dumm kommen. Wie können wir immer wieder aufs Neue die Funken beherzten Liebevollseins und liebevoller Beherztheit nähren, wenn andere Menschen aus der Reihe tanzen oder sich einfach nicht darum scheren? Wie können wir uns hohe Ziele stecken, wenn uns andere immer wieder unter der Gürtellinie attackieren? Bedeutet wahrhaftig sein, dass wir den Kontakt zu allen abbrechen, die aus unserer Sicht in ihrer Unwissenheit verharren? Bedeutet selbstbewusst zu sein, dass wir unser Leben von allen Menschen bereinigen, die nicht so hoch hinaus wollen wie wir – oder die sich zwar bemühen, aber nicht so sehr, wie sie es unserer Meinung nach tun sollten? Was tun wir, wenn wir selbst auf Abwege geraten oder von anderen öffentlich bloßgestellt werden?
FRANK HERBERT hat geschrieben, dass das Rätsel des Lebens kein Problem sei, das von Menschen zu lösen sei, sondern eine Wirklichkeit, die man erfahren müsse. Und obwohl er damit klar auf existenziellere Fragen abzielte, ist diese Vorstellung meines Erachtens auch für zwischenmenschliche Fragen wie die obigen relevant. Ich glaube nicht, dass es eine klare Antwort darauf gibt oder es überhaupt eine geben kann. Für uns als bewusste, ethische Menschen kommt es meiner Meinung nach eher darauf an, uns mit diesen Fragen und Erfahrungen um ihrer selbst willen auseinanderzusetzen, weil es einfach richtig ist, es zu tun. Ich denke, es geht darum, das Licht eines kritischen, offenen Bewusstseins in diese komplexen Fragen zu bringen – nicht, um »den richtigen Weg« zu finden, sondern einfach, weil der Prozess dieses Engagements viele Lehren in sich birgt und ein Nährboden für Wachstum ist. Meiner Meinung nach geht es darum, unseren Überzeugungen über die Kostbarkeit des Lebens möglichst treu zu bleiben, und wenn wir dabei bisweilen scheitern und hinfallen, immer wieder aufzustehen – besser als vorher. Es ist kein Problem, das es zu lösen gilt, sondern eher ein Prozess, den wir in unserem Inneren entdecken müssen. Und das tun wir im Namen der Liebe – im Namen dessen, was auch als Gerechtigkeit bekannt ist.
ES WAR EINMAL EINE NONNE, die viele Jahre in einem entlegenen Kloster meditierte. Eines Tages fand sie endlich Zugang zur tiefen Quelle inneren Friedens, die sie die ganze Zeit gesucht hatte. Es war allerdings kein gewöhnlicher Zustand der inneren Ruhe. Die Energie in ihr war schimmernd, warm und schön. Der Frieden erzeugte eine gewisse Anziehung, eine Zugkraft, eine Überzeugung genau im Zentrum ihrer Brust. Es war, als sehnte sich ihr weites Herz selbst danach, sich zu äußern, eine Verbindung zu anderen herzustellen. Die Nonne beschloss, dass es an der Zeit sei, das Kloster zu verlassen und sich in die nächstgelegene Stadt zu begeben. Sie verabschiedete sich, packte ihre Sachen und machte sich auf, um ihre Offenbarung zu teilen mit der Welt und denen, die sie brauchten.
Die Nonne, strahlend in ihrem erhabenen Zustand, lief so lange, bis sie den perfekten Ort fand, um anzufangen: einen Basar unter freiem Himmel. Nachdem sie so lange von allem abgeschottet im Kloster gelebt hatte, irritierten sie jedoch die Hektik und Aggressivität des Ortes. Ein Mann versetzte ihr im Vorbeigehen einen Stoß, blieb aber nicht stehen, um sich zu entschuldigen. Ein anderer rief ihr auf aggressive Weise anzügliche Dinge hinterher. Und während sie noch versuchte, diese Erfahrung abzuschütteln, sagte ihr wieder ein anderer Mann, sie solle doch mal lächeln. Die Händlerin am Gemüsestand wollte ihr das Doppelte des angegebenen Preises für ihre Einkäufe abknöpfen. Ein Teenager versuchte, sie zu bestehlen. Überall um sie herum hasteten Menschen umher, nur auf ihre eigenen Angelegenheiten und Wünsche fixiert, und die Nonne, die gedacht hatte, sie könne für diese Menschen als eine Art Retterin fungieren, geriet immer mehr aus der Fassung.
Überrascht schloss sie daraus: »Der innere Frieden, den ich gefunden hatte, war zwar schön, aber allem Anschein nach nicht real. Ein echtes weites Herz würde angesichts von Aggressionen nicht so schnell schrumpfen. Wahre Verwirklichung ist bedingungslos, unerschütterlich.«
Also kehrte die Nonne zu ihrer Meditation zurück. Dieses Mal begab sie sich tief in die Berge, wo sie bei den Bäumen und Tieren sitzen und dabei die warme Sonne und die kühle Brise auf ihrem Gesicht spüren konnte. Im Zwiegespräch mit der Erde, vielleicht der höchsten Lehrerin von allen, dauerte es nicht lange, bis der große innere Frieden sich wieder einstellte.
Erneut begab sie sich zum Markt. »Ich will wissen, ob es diesmal wirklich echt und endgültig ist«, dachte sie. Auf der Straße kam ihr ein wütender Mann entgegen. Er hielt sie an: »Entschuldigung, aber wo ist denn Ihr Mann?! Wo sind Ihre Kinder?! Ihr dummen, selbstsüchtigen, kinderlosen Nonnen. Ihr tragt nichts zur Gesellschaft bei. Ihr solltet lieber zu Hause bleiben und euch um den Haushalt kümmern. Sie und Ihresgleichen hasse ich!«
Er redete immer weiter. Und doch stellte die Nonne fest, dass sie sehr neugierig auf ihn war. Sie sah seine Mimik, seine Gesten, bemerkte die Angst an ihm. Sie nahm außerdem die Angst- und Abwehrgefühle wahr, die in ihrem eigenen Körper aufstiegen, und blieb mit diesen Gefühlen in Kontakt, auch während sie genau hinhörte. Der Mann schimpfte weiter über sie, aber statt automatisch darauf zu reagieren, nahm sie jedes Wort, das er sagte, in sich auf und antwortete: »Oh wirklich? … Interessant, dass Sie das so empfinden. Bitte, erzählen Sie mir mehr davon.«
Der Mann wurde noch wütender. »Hören Sie mir überhaupt zu?! Ich sage, dass ich Sie hasse.«
»Oh ja, das haben Sie durchaus deutlich gemacht«, sagte sie. »Aber, lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen: Angenommen, ich bin zu Hause und höre ein Klopfen an der Tür. Ich öffne sie, und vor mir steht eine Person, die hereinkommen möchte. Ich empfange sie als Gast in meinem Haus. Als der Gast hereinkommt, bemerke ich, dass er etwas in der Hand hält. ›Hier, ich habe dir ein Geschenk mitgebracht‹, sagt er mir. Ich sehe mir das Geschenk an und entscheide, dass ich es nicht haben will. Und so sage ich ihm: ›Vielen Dank, aber – Nein. Ich weiß das Angebot zwar zu schätzen, aber ich kann dein Geschenk nicht annehmen.‹ Sagen Sie mir nun, wem gehört das Geschenk?«
»Dem Gast natürlich.«
»Genau! Und ebenso habe ich Sie heute in meinem Haus, in meinem persönlichen Bereich, willkommen geheißen und habe Ihnen zugehört. Und Sie sind hier wirklich willkommen – aber dieses Geschenk der Aggression und des Hasses, das Sie mir geben? Das will ich nicht haben. Sie dürfen es behalten.«
DIESES GLEICHNIS GIBT UNS EIN IDEALES BEISPIEL, wie wir als wacher Mensch durch diese Welt gehen können. Es erinnert uns daran, dass wir die Aggressionen, die wir in uns aufnehmen, wenn wir über den Markt gehen, minimieren können. Und sie verdeutlicht, dass wir in unserem Umgang mit anderen mehr Möglichkeiten haben, als wir denken. Die Nonne in der Geschichte hat die nötige Gelassenheit, nicht nur mit ihrem Inneren – ihrem Gefühl der Angst und Abwehr – in Kontakt zu bleiben, sondern auch zu erkennen, dass der Mann, der sie anspricht, nicht aus Wut besteht. Vielmehr ist Wut nur ein Teil von ihm – ein Teil, dem sie den Zutritt verweigern kann. Aber all das läuft auf eine entscheidende Fähigkeit hinaus: Unterscheidungsvermögen, Einsicht. Einsichtig, bewusst, klar erkennend, welche Gefühle zu wem gehören – so kann sie das »Geschenk« der Feindseligkeit, das ihr der zornige Mann geben will, ablehnen. Sie bildet eine Art geistigen Muskel heraus, den auch wir entwickeln können und der wichtig ist für uns.
Eine Klientin erzählte mir erst neulich, sie habe, nachdem sie diese Geschichte gehört hatte, einen Zettel auf ihren Schreibtisch gelegt, auf dem steht:
Welche Gefühle gehören zu wem?
Zurück an den Absender.
DIE ANTWORT DER NONNE LÄUFT der Intuition von Grund auf zuwider. Wie wir bereits in unserer Diskussion über Neuropsychologie gesehen haben, sagt uns das limbische System angesichts von Feindseligkeit, wir sollten uns von der wütenden Person entfernen, uns wehren oder uns vor ihr abschotten. Kulturell haben wir diese Impulse in eine konventionelle Logik über den Umgang mit Missbehagen im zwischenmenschlichen Umgang übersetzt: Dreh die Kopfhörer auf volle Lautstärke, geh weg und schreib vielleicht eine Schimpftirade darüber in den sozialen Medien. Die spirituelle Version davon, habe ich mir sagen lassen, besteht darin, ein Kraftfeld um mich herum zu visualisieren, das alle schlechten Schwingungen, die auf mich zukommen, von mir ablenkt. Diese Optionen sind zwar nicht unbedingt schlecht, aber sie alle bringen eine gewisse Anspannung mit sich, einen Widerstand gegen das, was die Welt uns ganz natürlich und beharrlich präsentiert.
Solche Methoden sind auch mit ziemlich viel emotionaler Arbeit verbunden – etwas, mit dem viele von uns ohnehin schon mehr als genug zu tun haben. Der Weg, den die Nonne geht, ist ein anderer. Sie bleibt im Vollbesitz ihrer Macht. Sie bleibt mit ihrem Körper verbunden. Ganz bewusst lässt sie sich von dem Mann nicht ihren Frieden rauben. Sie heißt ihn sogar willkommen. Und weil sie richtig erkennt, dass die Energie, die er bei ihr abladen will, einfach nur seine eigene Feindseligkeit ist, nimmt sie seine Worte nicht persönlich und kämpft in keiner Weise dagegen an. Sie führt »beziehungsmäßig« eine Jiu-Jitsu-Bewegung aus, die bewirkt, dass er durch den Schwung seiner eigenen Wut hinfällt. Er kommt auf sie zu, aber sie tritt einfach beiseite und am Ende fällt er auf die Nase.
Das ist die Macht des Unterscheidungsvermögens.
MIR FALLEN TAUSEND SITUATIONEN EIN, in denen jemand mir auf die üble Tour kam und ich das Geschenk angenommen habe. In denen ich nicht innegehalten und mir in Erinnerung gerufen habe: »Ach ja – dein Bullshit muss ja nicht zu meinem werden.« Ich habe die boshaften Bemerkungen und die Ignoranz der Betreffenden sofort aufgegriffen, als wäre es mein Problem, und habe dagegen angekämpft. Ob ich in einem solchen Moment automatisch reagiere und dafür sorge, dass die Situation eskaliert, oder nicht, auf jeden Fall lasse ich die Person in meinen Kopf einziehen. Selbst wenn ich die Angelegenheit für einige Zeit loslasse, wird sie um vier Uhr morgens wieder da sein, wenn ich nicht wieder einschlafen kann, und wird an mir nagen. Wahrscheinlich stellen sich dann tausend geistige Wiederholungen des Szenarios ein (eine vorsichtige Schätzung), die sich im Kreis drehen. Bei jeder Wiederholung denke ich mir eine neue, clevere Retourkutsche aus, von der ich mir gewünscht hätte, dass sie mir in der Situation eingefallen wäre. Ich plane meine Rache auf viele verschiedene Arten. Ich ärgere mich über alle ähnlichen Situationen, in denen ich mich schon einmal befunden habe. Ich verallgemeinere den Vorfall in Bezug auf etliche andere Personen oder Kategorien: Er wird zum Beweis dafür, dass mit den Männern etwas nicht stimmt, mit den New Yorkern, den Konservativen, mit irgendeiner anderen Gruppe … oder dafür, dass das Leben von Natur aus unfair ist, oder dafür, dass zwangsläufig etwas mit mir nicht stimmen kann, »weil ich das immer wieder anziehe und manifestiere«.
Ich bin bestimmt der Einzige, der das tut, oder?
Aus der Perspektive der Neurowissenschaften und der erfahrungsabhängigen Neuroplastizität ist diese fast universelle, allzu gewohnheitsbedingte Reaktion unglaublich schädlich. Schließlich verändert sich das Gehirn mit jeder Erfahrung, die wir machen, und wenn wir unsere bewusste Aufmerksamkeit auf etwas richten, prägt sich diese Erfahrung unserem neurologischen System stärker ein. So wird bei jedem geistigen Rückblick auf einen Konflikt die negative Erfahrung immer fester verdrahtet, wie eine Rille in einer Schallplatte, die immer tiefer wird. Je persönlicher wir eine Erfahrung nehmen, umso intensiver empfinden wir sie wahrscheinlich auch, was dann noch mehr Bereiche unseres Gehirns in Beschlag nimmt. Wenn wir uns zum Beispiel wiederholt bei unseren Freund*innen über etwas beschweren, das schlecht gelaufen ist (so wie wir es ganz natürlich hin und wieder tun), dann lösen wir eine ganze Reihe neuer neurologischer Abläufe aus, die an sozialen und sprachlichen Funktionen beteiligt sind. Auf diese Weise vertiefen wir nicht nur die neuronalen Bahnen, die sich uns einprägen, sondern wir vervielfachen auch die Zahl der beteiligten neuronalen Bahnen.
Ich behaupte nicht, es sei sinnlos, zu reagieren. Ich sage dir nicht, dass du dich nicht mit Negativem und Schädlichem auseinandersetzen sollst, wenn es dir begegnet. Ich sage nicht, dass es falsch gewesen wäre, wenn die Nonne lieber das Weite gesucht oder um Hilfe gerufen hätte. Ein Teil von mir wünscht sich, die Nonne hätte den Typen tatsächlich mit Jiu-Jitsu unschädlich gemacht. Doch ich möchte hier eher ein sehr klebriges Netz beleuchten, in dem sich viele von uns verfangen haben. Ich frage: Was würde sich ändern, wenn wir in solchen Situationen wirklich unterscheiden könnten, welche emotionale Energie zu wem gehört?
Unterscheidungsvermögen kann die kostbare Zeit und Energie, die uns bei solchen Interaktionen entzogen werden, drastisch reduzieren. Es kann uns Dutzende (oder Hunderte) Fahrten auf dem geistigen Karussell wiederkehrender Gedanken ersparen. Unterscheidungsvermögen kann man als »gute Grenzen haben« auffassen, aber ich sehe es gern auch so, dass es dabei um Effizienz geht. Es gibt tausend verschiedene Möglichkeiten, wie ich mich uneigennützig für andere einsetzen kann. Jedes Mal, wenn jemand versucht, seine beschissenen Gefühle auf mich zu projizieren, und ich anbeiße, schmälert das zwangsläufig meine anderen Bemühungen, tatsächlich zu helfen. Ich kann die Zeit und Energie darauf verwenden, auf Facebook herumzudiskutieren und mich zu streiten, oder ich kann meine begrenzten Ressourcen einsetzen, um für Menschen da zu sein, mich zu organisieren und auf der Straße zu protestieren. Ich kann entweder Stück für Stück dem Burn-out immer näherkommen, indem ich bei jeder Kleinigkeit auf Konfrontation gehe, oder ich kann mir meine Empörung aufsparen für Situationen, in denen es wirklich darauf ankommt.
Offensichtlich empfinde ich das als wahr für mich. Es muss aber nicht wahr für dich sein. Du fühlst dich vielleicht zu etwas ganz anderem aufgefordert, hast andere Überzeugungen. Ich fühle mich zum Beispiel nicht dazu aufgerufen, mich von der rassistischen Wut oder den Kommentaren anderer im Internet herunterziehen zu lassen; ich möchte einfach weiterhin antirassistische Arbeit unterstützen. Aber vielleicht ist es dir wichtig, solchen Leuten Paroli zu bieten und dich entweder mit ihnen auseinanderzusetzen oder mit ihnen ins Gespräch zu kommen – oder sie sogar wie ein Troll zu provozieren. Dennoch: Wie würde ein solches bewusstes Unterscheidungsvermögen, von der wir hier sprechen, deine Reaktion und die Auswirkungen der Begegnung auf dich verändern?
In Wahrheit wäre es wirklich übel, der wütende Mann im obigen Gleichnis zu sein. Wut ist ein angstvoller Zustand und darin steckenzubleiben, ist eine ganz eigene Hölle. Wir werden nicht für unsere Sünden bestraft; wir werden von ihnen bestraft. Eine unschuldige Passantin aggressiv anzugehen, ist an sich schon eine Strafe. Ich würde es hassen, ein Mensch zu sein, der in solchen Verhaltensweisen gefangen ist. Es ist und bleibt wahr, dass die Verachtung des wütenden Mannes nichts mit der Nonne zu tun hatte – er wusste gar nichts über sie. Außerdem ist Wut eine sekundäre Emotion. Sie ist stets eine Reaktion auf Schmerz (ebenso wie Mitgefühl). Anteile von uns, die Wut in sich tragen und Aggression nach außen richten, sind defensiver Natur – und was wir verteidigen, sind verletzliche Stellen: jene Teile von uns, die schmerz-, scham- und angst-behaftet sind. Wir können infolgedessen den logischen Schluss ziehen, dass der Mann in dem Gleichnis eine schmerzliche Erfahrung gemacht haben muss, die er eindeutig nicht gelöst hatte und immer noch mit sich herumtrug. Seine zornigen Teile wollten gewährleisten, dass seine Verletzlichkeit nicht aufgedeckt wurde, und so suchte er sich ein Opfer, das er als verletzlicher empfand als sich selbst, um dieses toxische Gefühl der Macht auszuagieren: die Nonne. So betrachtet, ist der Mann, den wir normalerweise als Aggressor ansehen würden, jemand, der unser Mitleid und unser Mitgefühl verdient.
Der Großteil menschlichen Verhaltens ist ein Versuch, die Last unserer Gefühle zu verringern. Wir versuchen ständig, uns damit, wie es uns ergeht, weniger allein zu fühlen. Je extremer der Ausdruck unserer Gefühle, desto extremer das verzweifelte Bestreben, uns auf einer tiefen Ebene gehört und verstanden zu fühlen. Aus solch gewohnheitsmäßigen Zyklen können wir aussteigen, sobald wir unsere psychischen Anliegen selbst in die Hand nehmen und erkennen, wie wir innehalten, unsere Gefühle verarbeiten und Verantwortung für sie übernehmen können, bevor wir reagieren.